Kulturvermittlung
Das Prinzip von Weihnachtsfeiern in Dänemark: Es gibt jede Menge Essen. Zuerst kommen die geschälten Garnelen, die fritierten Schollenfilets, dreierlei eingelegte Heringe sowie der Räucherlachs. Jedes dieser Gerichte wird auf Schwarzbrot serviert außer dem Räucherlachs natürlich, der auf getoastetes Weißbrot gelegt wird. Am Ende wird alles mit den zugehörigen Toppings garniert: Rohe Zwiebeln, Kapern, Mayonnaise, Dillspitzen, Honigsenf. Dazu gibt es Bier und Schnaps.
Ich wohne schon lange hier, und doch muss ich bei jedem Weihnachtsfest wieder fragen: Wie wird das alles nochmal gegessen?
Da gibt es doch keine Regeln, rufen die netten Dänen dann, diese Hyggeonkel und -tanten. Einfach essen, alles geht. Skål!
Also nehme ich zwei Löffel Currymajo und streiche sie auf die Kräuterheringe.
Ines probiert mal was ganz Neues aus, sagen die anderen und grinsen.
Ihr habt gesagt, es gibt keine Regeln, sage ich.
Regeln nicht, aber jeder weiß doch, dass der Hering nicht gerade in der Majo schwimmen darf. Und dann die Kombination aus Kräutern und Curry…
Insgesamt schmeckt es immer sehr gut. So gut, dass ich jedes Jahr aufs neue vergesse, dass das erst die Vorspeise ist. Später kommt die lauwarme Leberpastete mit Bacon und Gurkensalat, dann die Frikadellen und Würste mit Grünkohl, dann der Schweinebraten mit Rotkohl und am Ende selbstverständlich der Sahnemilchreis mit Kirschsauce. Und so ist es dieses Jahr genau wie in den vielen Jahren davor. Ich sehe den anderen beim Essen der Fleischgerichte zu, nehme teil am rituellen Heben der Schnaps- und Biergläser, und die Unterhaltung bekommt Schlagseite. Es geht um die Deutschen. Genauer gesagt um den dänischen Grenzhandel in Flensburg. Wie viele Dosen Carlsberg und Cola man da fürs Geld kriegt und wie lächerlich billig die Schokolade ist. Da ist es so wie früher bei uns, sagen sie, da kriegt man einfach noch was fürs Geld.
Warum essen die Deutschen eigentlich so viel, fragt mich jetzt jemand, vom Tischende her. Hat das was mit dem zweiten Weltkrieg zu tun?
Lampenfieber
In der Nacht vor der Lesung wurde mir schlecht. Vielleicht lag es am Essen. Fischkroketten, Blutwurst mit Äpfeln, Schokosahnepudding, dazu Sekt und Bier, die Kölner Kost war wohl zu viel für meinen Magen. Möglicherweise war es auch meine erste Begegnung mit dem Kölner Dom, der sich, aus Energiespargründen unbeleuchtet, als schwarzes Monster am Nachthimmel erwiesen hatte. Der wahrscheinlichste Grund aber war, dass ich aufgeregt war. Natürlich war ich aufgeregt. Wie sollte es anders sein, dachte ich, während ich im Bett lag, das Fenster des Hotelzimmers weit offen, im gelben Licht einer riesigen Mondscheibe und unter dem schwarzen Schatten des Doms. Es war ja das erste Mal. F. lag neben mir, atmete, als ob er schlief und hielt meine Hand.
Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg durch dichten Herbstnebel. Der Ort der Veranstaltung war mit Schloss R. angegeben, zwanzig Autominuten von Köln entfernt. In Wahrheit handelte es sich um ein zweistöckiges Betongebäude, dessen Wände plötzlich aus dem Nebel ragten, genau wie das Schild, das den Parkplatz bezeichnete. Ich saß auf dem Beifahrersitz und starrte in das schmutzigrosa Nichts der Nebelschwaden vor uns. Dann geschah, was ich nicht für möglich gehalten hatte. Auf unwahrscheinliche Weise siegte die Sonne. Binnen weniger Atemzüge löste sich der Nebel auf, gab die Sicht frei auf weite, vom Tau funkelnde Wiesen und einen wolkenlosen Herbsthimmel. Direkt vor unserem Auto erschien ein geräumiger Mülleimer. Auf dem Rand saß eine Krähe und wies mit dem Schnabel wie mit einem Zeigefinger immer wieder in den Mülleimer hinein, während sie mich aus dem mir zugewandten Auge anstarrte. Ich musste lachen und spürte, wie die Last der Nacht von mir abfiel. Ich würde standhalten.
Lesung anlässlich der Verleihung des Nominierungspreises der Gruppe 48, Prosa
9. Oktober 2022
Thetys
Heute kam die Printausgabe von absolut. Unglaublich schön die Illustrationen, auch zu meinem Text
absolut-zine.com
Grünkraft
Im Regen der vergangenen Woche sind Wände aus Gras gewachsen, aus Büschen, Baumriesen. Die größte Freude: an einem Morgen im Mai aufwachen, beschützt von selbst gepflanztem Grün. Blüten hier und da, doch darauf kommt es gar nicht an. Es sind die Blätter. Die Blätter, die Sonnenstrahlen in erträglichem Maß bis zu mir durchlassen, die mir geduldig zeigen, wozu das Licht da ist, die sich an meiner Stelle blenden lassen, meine Augen heilen. Jetzt weiter. An diesem Punkt. So lasse ich mich fallen in die grüne Welt.
Der neunte Tag
Wie das Sonnenlicht jetzt wieder Schatten wirft in einem Winkel, den es lange nicht mehr gab. Jedes Jahr, am Ende jeden Winters erwischt es mich. Wie alt muss man eigentlich werden…
Wie das Sonnenlicht jetzt wieder Schatten wirft in einem Winkel, den es lange nicht mehr gab. Jedes Jahr, am Ende jeden Winters erwischt es mich. Wie alt muss man eigentlich werden. Es ist der neunte Tag des Krieges. Im Park Blumen und Schilder vor der Statue eines ukrainischen Dichters. No war. Die Blumen sind welk, ein neun Tage altes Grab. Auf braunem Wasser treibt der Himmel in eisblauen Scherben.
Zuflucht
Zuflucht — darin ist Flucht verborgen. Sechs von acht Buchstaben. Flucht macht den größten Teil von Zuflucht aus, und ich wundere mich, dass mir das früher nicht aufgefallen ist. Genau hinsehen hat auch hier …
Zuflucht — darin ist Flucht verborgen. Sechs von acht Buchstaben. Flucht macht den größten Teil von Zuflucht aus, und ich wundere mich, dass mir das früher nicht aufgefallen ist. Genau hinsehen hat auch hier einen bedeutenden Unterschied gemacht. Früher war Zuflucht ein gutes Wort, tröstlich und voller Hoffnung. Jetzt enthält es zu sechs Achteln die Grausamkeit der Flucht. Aber auch die Hoffnung ist da, dass es auf der Flucht irgendwo Schutz geben kann. Zuflucht ist nicht das Ende der Flucht. Bestenfalls eine Unterbrechung, ein kurzes Atem holen, ein Aufblitzen von Menschlichkeit. Ein Zelt, etwas zu essen, ein Bett, eine Dusche. Ein Zimmer im Flüchtlingswohnheim. Eine Wohnung in der Fremde. Freundliche Menschen, die eine fremde Sprache sprechen. Zuflucht ist eine geöffnete Tür. Jedoch nicht die Türe zu einem verlassenen Haus, die der Wind aufgeweht hat. Das Haus ist bewohnt, und jemand, ein Mensch, hat denen, die flüchten, eine Türe geöffnet. Ich hoffe für uns, die wir bis jetzt von der Notwendigkeit der Flucht verschont geblieben sind, dass wir es sind, die Türen öffnen.
Mein Text für neolith # 6
Die neue Ausgabe von neolith, Magazin für neue Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal, hat den Titel Zuflucht. Ein Titel, der mitten in der Pandemie gewählt wurde und jetzt, angesichts des Kriegs in der Ukraine und den tausenden Menschen, die vor diesem Krieg fliehen müssen, eine besondere Aktualität hat. Mein Beitrag in dieser Ausgabe …
Die neue Ausgabe von neolith, Magazin für neue Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal, hat den Titel Zuflucht. Ein Titel, der mitten in der Pandemie gewählt wurde und jetzt, angesichts des Kriegs in der Ukraine und den tausenden Menschen, die vor diesem Krieg fliehen müssen, eine besondere Aktualität hat. Mein Beitrag in dieser Ausgabe trägt den Titel “Der grüne Raum”. Erzählt wird von zwei Menschen, die angesichts einer lebensbedrohlichen Krankheit ein Grab auswählen. Dieser Ort ist Zuflucht und Trost, über die Zeit und den drohenden Tod hinweg.
Winter, kein Ende
Der Himmel verschwindet in diesem verdammten Nebel. Ich stapfe durch Gras in viel zu großen Gummistiefeln, den Blick immer nach unten. He, ruft jemand…
Der Himmel verschwindet in diesem verdammten Nebel. Ich stapfe durch Gras in viel zu großen Gummistiefeln, den Blick immer nach unten. He, ruft jemand, der Rasen ist in dieser Jahreszeit verletzlich. Du solltest ihn nicht betreten. Am Rand der Beete balanciere ich bis zum Apfelbaum. Ich hebe die Reste der verfaulten Äpfel vom Vorjahr hoch, grabe in der schwarzen Masse der Verwesung, doch ich finde nichts. Keine Spur. Lebst du noch, denke ich. Gibst du jetzt auf, noch vor mir? Auf dem Rückweg versuche ich, gerade zu gehen, auch nicht umzufallen, als ich die Gummistiefel ausziehe. Das Holz ist feucht, es qualmt im Ofen. Hustend, frierend warte ich hinter beschlagenen Fensterscheiben das Ende des Winters ab.
Lyrik in MIXTAPE
MIXTAPE — ein lesbares Mixtape mit Lyrik von mir auf Seite A. Zum Beispiel…
MIXTAPE — ein lesbares Mixtape mit Lyrik von mir auf Seite A. Zum Beispiel hier erhältlich.