Lampenfieber

In der Nacht vor der Lesung wurde mir schlecht. Vielleicht lag es am Essen. Fischkroketten, Blutwurst mit Äpfeln, Schokosahnepudding, dazu Sekt und Bier, die Kölner Kost war wohl zu viel für meinen Magen. Möglicherweise war es auch meine erste Begegnung mit dem Kölner Dom, der sich, aus Energiespargründen unbeleuchtet, als schwarzes Monster am Nachthimmel erwiesen hatte. Der wahrscheinlichste Grund aber war, dass ich aufgeregt war. Natürlich war ich aufgeregt. Wie sollte es anders sein, dachte ich, während ich im Bett lag, das Fenster des Hotelzimmers weit offen, im gelben Licht einer riesigen Mondscheibe und unter dem schwarzen Schatten des Doms. Es war ja das erste Mal. F. lag neben mir, atmete, als ob er schlief und hielt meine Hand.

Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg durch dichten Herbstnebel. Der Ort der Veranstaltung war mit Schloss R. angegeben, zwanzig Autominuten von Köln entfernt. In Wahrheit handelte es sich um ein zweistöckiges Betongebäude, dessen Wände plötzlich aus dem Nebel ragten, genau wie das Schild, das den Parkplatz bezeichnete. Ich saß auf dem Beifahrersitz und starrte in das schmutzigrosa Nichts der Nebelschwaden vor uns. Dann geschah, was ich nicht für möglich gehalten hatte. Auf unwahrscheinliche Weise siegte die Sonne. Binnen weniger Atemzüge löste sich der Nebel auf, gab die Sicht frei auf weite, vom Tau funkelnde Wiesen und einen wolkenlosen Herbsthimmel. Direkt vor unserem Auto erschien ein geräumiger Mülleimer. Auf dem Rand saß eine Krähe und wies mit dem Schnabel wie mit einem Zeigefinger immer wieder in den Mülleimer hinein, während sie mich aus dem mir zugewandten Auge anstarrte. Ich musste lachen und spürte, wie die Last der Nacht von mir abfiel. Ich würde standhalten.

Lesung anlässlich der Verleihung des Nominierungspreises der Gruppe 48, Prosa

9. Oktober 2022

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